Jesus war Jude. Er war jüdischen Glaubens. Er sah sich selbst nicht als einen Gott, dieser Gedanke wäre ihm ketzerisch und meschugge erschienen. Seine wichtigsten Botschaften und Anliegen waren:
• Das Reich Gottes kommt. Sein Kommen steht unmittelbar bevor. Darum ging er zum Ölberg Jerusalems, um dort auf dieses Ereignis zu warten. Das Gottesreich ist ein diesseitiges (nicht jenseitiges) Reich, eine Art Theokratie.
• Nur die vorzüglichsten Juden können Teil dieses Reichs werden. Alle anderen werden vernichtet.
• Jesus wollte die jüdischen Glaubensbrüder (nicht alle Menschen) auf dieses bevorstehende Gottesreich vorbereiten. Er wollte keine neue Religion gründen. Er wollte keine Kirche gründen.
Da das Reich Gottes jedoch wider Erwarten nicht kam, sondern Jesus stattdessen von den Römern als politischer Störenfried hingerichtet wurde, sagte Jesus am Kreuz: "Gott, warum hast Du mich verlassen?". Es war für die Juden damals offensichtlich, dass er sich geirrt hatte, und auch Jesus sah sein Scheitern ein. Darum wollten die Juden nach Jesu Tod von ihm nicht viel wissen.
Erst als Paulus, der Jesus nicht gekannt hatte, eine Generation später die ganze Geschichte stark umstrickte, interessierten sich Menschen dafür. Vor allem Heiden, kaum Juden. So entstand eine neue Religion, das Christentum, welches auf den Geschichten von Paulus basiert.
Zitat:
Zitat von Jörn
Zwei Aspekte finde ich dabei besonders interessant:
Erstens: Die Kreuzigung Jesu spielt sich ab im Neuen Testament. Komischerweise finden wir im Alten Testament folgenden Vers:
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?" (Psalm 22,2)
Da hat wohl jemand abgeschrieben?
Und komischerweise fehlt dieser Satz bei Lukas und Johannes, den beiden späteren Evangelien. Nach deren Auffassung schickt es sich nicht, an Gottes Treue zu zweifeln. Bei denen betont Jesus stattdessen diese Treue (also das Gegenteil):
"Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist!". (Lukas 23,46)
Aber, so ein Zufall, auch diesen Spruch finden wir in den Psalmen des Alten Testaments:
"Vater, in deine Hand befehle ich meinen Geist" (Psalm 31,6)
Zweitens: Wie bei allen Legenden werden sie mit der Zeit immer wunderbarer. In den frühen Texten war Jesus kein Gott und bezeichnet sich auch nicht so, beispielsweise im Markus-Evangelium. Die Bezeichnung "Sohn Gottes" in diesen frühen Texten meint keine Verwandtschaft, sondern nur die Befolgung göttlicher Gebote. Jeder, der die Gebote befolgte, war in diesem Sinne ein "Sohn Gottes".
Je später die weiteren Evangelien verfasst wurden, desto göttlicher wurde Jesus, bis er schließlich bei Johannes selbst zu einer Gottheit wurde. Dadurch ändern sich auch die Szenen der Kreuzigung. Anstatt dass Jesus etwas widerfährt, handelt er selbst.
Bei Markus wird er nach dem Tod noch auferweckt (Gott handelt, Jesus ist passiv), während er bei Johannes alles in der Hand behält und über sein Leben sagt: "Niemand nimmt es von mir, sondern ich selbst lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und ich habe Macht, es wiederzunehmen".* (Johannes 10,18)
Noch später wurde Jesus mit Gott sogar identisch (Trinität, Konzil von Nicäa, 325 n.Chr.).
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* Was die theologische Frage aufwirft, ob Jesus wirklich tot war, wenn er während seines Todes in der Lage war, sich selbst zu erwecken.
Puh - da bleibt nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass da doch nicht alles erfunden ist, was viele Menschen mit Jesus verbinden.
Arnes Ausführungen habe ich so ausgefasst, als wäre es historisch belegt, dass Jesus am Kreuz sagte "Gott, warum hast du mich verlassen?", während Jörns Ausführungen in Bezug auf diese Äußerungen für mich so klingen, als würde er es für sehr wahrscheinlich erachten, dass Jesus diese Worte nicht sagte.
Deal with it, es braucht ein Wunder, damit irgendetwas aus dem Rand des römischen Reiches vor 2000 Jahren ausführlich und verlässlich dokumentiert ist
m.
Es gibt so einen in meinen Augen schönen Spruch:
Nehme niemals jemandem eine Illusion weg, es sei denn, du gibst ihm dafür was besseres.
Oder so ähnlich halt.
Keine Sorge - ich bin hart im Nehmen!
Das Phantasieren ist der einzige von einer ganzen Batterie an Ich-Abwehrmechanismen (Übersicht bei ZIMBARDO - Einführung in die Psychologie), der durchgelassen wird, also gem. Psychoanalyse nicht zur Verdrängung usw. führt. In short: Phantasieren ist in Ordnung, um die Realität besser bewältigen zu können aus wissenschaftlicher Sicht.
Wie ist es mit der Kunst bestellt nach wissenschaftlicher Sichtweise? Unterziehen wir die Kunst dem rationalen Fenster (rational window)? Auch hier müssten tausende Wissenschaftler hoffnungslos vor den zahlreichen Ausstellungen, Vernissagen und Gallerien scheitern - ähnlich wie bei Arnes Metapher die Wissenschaftler vor der Kirche, die Religion nicht verstehen können - da Kunst sich der rationalen Analyse entzieht. Indem Kunst "verrationalisiert" würde, würde man das Wesen der Kunst vernichten und den Zauber zerstören. Rationalisierung ist nach Sigmund und Anna Freud übrigens auch ein Ich-Abwehrmechanismus.
Was ich eigentlich schreiben wollte ist, dass ich gehofft hatte, Helmut erzählt ein bisschen mehr über Kant, den "Alleszermalmer". Diese Ausführungen interessierten auch mich sehr. :-)
denn: Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten. (Kant; bekannt als die zweite Kernaussage [auch: kopernikanische Wende Kants genannt] neben der goldenen Regel bzw. dem kategorischen Imperativ).
In short: Phantasieren ist in Ordnung, um die Realität besser bewältigen zu können aus wissenschaftlicher Sicht.
Gilt das für alle Phantasien? Bewirkt jedwede Phantasie eine bessere Bewältigung der Realität? Das wäre aus meiner Sicht noch zu klären.
Ich finde es in Ordnung, einen fiktiven, idealisierten Jesus in ein ebenso fiktives System wie die christliche Religion zu setzen. Es gibt viele solche fiktive Systeme, derer wir uns bedienen, wie beispielsweise die Menschenrechte oder das Geldsystem oder die Nationalstaaten.
Problematisch wird es erst dadurch, dass man diese Fiktionen mit der Wirklichkeit verwechselt. Ein 100.000-Euro-Aktienpaket ist in Wirklichkeit nichts wert, was jeder bestätigen wird, der einen Börsensturz mitgemacht hat. Sein Wert ist eine Fiktion, die ihre Grenzen hat.
Die Menschenrechte sind eine Fiktion, und damit auch ihre Details, welche Rechte das im Einzelnen sind. In gleicher Weise ist es eine erzieherische Fiktion, es sei da ein Gott im Himmel, der etwas gegen Verhütungsmittel habe.
Eine Verwechslung dieser Fiktionen mit der Wirklichkeit nennen wir Fundamentalismus. Wir haben heute bei diesem Begriff ein ungutes Gefühl. In einem Fundamentalisten sehen wir jemanden, der eine entscheidende Sache nicht richtig verstanden hat. Fundamentalismus lehnen wir ab, weil mit den Fundamenten der Religionen etwas nicht in Ordnung ist. Und dieses Fundament ist: Der absolute Wahrheitsanspruch einer Fiktion.
Hier wird jeder seine eigene Meinung haben. Für mich persönlich scheint es ein sinnvoller Weg zu sein, nachzusehen, was Jesus tatsächlich gesagt und gewollt hat, um die Fiktion wieder mit der Wirklichkeit zu verbinden.
Ich würde mich besser fühlen, wenn die Priester über die Vorzüge der Phantasie referiert hätten, bevor sie dabei ertappt wurden, alles nur erfunden zu haben.
Denn komischerweise haben sie zuvor immer behauptet, es handele sich um Tatsachen:
Paulus: "Danach [nach der Auferstehung] ist er [Jesus] gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden." (1. Korinther 15, 6-8)
Wenn alles nur schöne Phantasie und noble Kunst ist, stellen sich weitere Fragen, die ich mal mit zwei Bildern umschreibe:
Wie kommst du zu dem Schluss, dass ausgerechnet diese Aussage der Bibel der Wahrheit entspricht?
Nicht ich selbst komme zu diesem Schluss, sondern Historiker, die ich gelesen habe. Wie immer gibt es jedoch auch andere Meinungen.
Wenn eine Aussage Jesu oder eine Begebenheit seines Lebens auch von nichtchristlichen Quellen belegt wird, gewinnt sie an Überzeugungskraft. Insofern gilt die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer als recht wahrscheinlich, ebenso sein Tod am Kreuz.
Jesus war Jude und kannte die jüdische Tora mitsamt den darin enthaltenen Prophezeiungen. Er glaubte fest daran, dass das dort vorausgesagte Gottesreich (auf Erden) kommen würde, und zwar sehr bald. Vor diesem Hintergrund sind seine Handlungen nachvollziehbar, beispielsweise, dass er sich zunächst weigerte, nichtjüdische Kinder zu heilen. Denn sie würden nach seiner Überzeugung ohnehin nicht am irdischen Gottesreich teilnehmen können. Er verglich sie mit Hunden, denen man nicht das Brot hinwerfen solle (Mt 15, 21-28).
21 Jesus ging weg von dort und zog sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau aus jener Gegend kam zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält. 23 Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Schick sie fort, denn sie schreit hinter uns her! 24 Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. 25 Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! 26 Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. 27 Da entgegnete sie: Ja, Herr! Aber selbst die kleinen Hunde essen von den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. 28 Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.
Denn das Gottesreich war nach der Tora und damit auch nach der Überzeugung Jesu allein den Juden vorbehalten. Deshalb sagt Jesus im Matthäusevangelium, dass nur die Juden missioniert werden sollen (Mt 10, 5-8).
Geht nicht zu den Heiden (Nichtjuden), und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Geht und verkündet. Das Himmelreich ist nahe.
Weil für Jesus die irdische Gottesherrschaft unmittelbar bevorstand, machte es für ihn keinen Sinn, Nichtjuden zu heilen oder zu missionieren. Denn Nichtjuden würden ohnehin nicht ins Gottesreich kommen, sondern vernichtet werden.
Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, dass Jesus nicht damit gerechnet hat, von den Römern hingerichtet zu werden. Sein Ausspruch "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" ist zudem in aramäischer Sprache, der Muttersprache Jesu, überliefert. Die Autoren der Bibel schrieben jedoch griechisch. Außerdem passt das Eingeständnis seines Scheiterns nicht in die erst später entstandene christliche Denkweise. Der Ausspruch wurde daher von späteren christlichen Autoren korrigiert, weil dort der Gekreuzigte eine Gottheit sein soll.
Der Ausspruch passt aber zur jüdischen Denkweise und der Tora. Jesus war gläubiger Jude. Er sah sich als König der Juden, welcher in der Tora weis gesagt wurde, also als einen Menschen. Aufgrund dieses politischen Anspruchs, König des jüdischen Bevölkerungsanteils zu sein, wurde er von den Römern zum Tod verurteilt.
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Mancher wird sich daran stören, wenn Jesus als jemand dargestellt wird, der sinngemäß rief: "DAS ENDE IST NAH! FOLGT MIR ALLE NACH!!!". Wir haben heute mehr Erfahrung mit Heilsversprechen und Endzeitvisionen, als Jesus und seine Mitmenschen haben konnten. Darauf sollten wir uns nichts einbilden, auch wenn wir mit Fug und Recht feststellen dürfen, dass er sich nunmal geirrt hat: Das Reich Gottes kam nicht. Jesus war ein Kind seiner Zeit, genauso wir wir Kinder unserer Zeit sind, die seitdem 2000 Jahre Fortschritt hinter sich gebracht hat.
Auch wenn Jesus sich geirrt hat, wenn er religiösen Fantasien unterlag, wenn er mit Menschenrechten und universaler Nächstenliebe nichts am Hut hatte: Das bedeutet nicht, dass alles falsch gewesen wäre, was er gesagt hat oder gesagt haben soll. Wir müssen Legenden, Irrtümer und Dinge, die wir heute als moralisch falsch erkannt haben, von seinen guten und nachdenkenswerten Seiten trennen. So wie wir das auch bei Sokrates, Kant, Gandhi oder Einstein tun. Dabei können wir doch eigentlich nur gewinnen, oder?